Struktur tritt nicht mehr an, um zu vereinfachen. Sie lässt lieber Möglichkeiten offen. Luhmann- Satz geht so: „Hohe Kontingenz von Ereignissen bedeutet, dass alles, was ist, auch anders sein könnte.“ Also: Nichts, was passiert, ist zwingend. Andere Möglichkeiten sind immer genauso wahrscheinlich. Also doch Chaos? Pure Vernunft kann nicht gewinnen Immer wieder haben Gesellschaften versucht, dieser Offenheit etwas entgegenzusetzen. „In der modernen Gesellschaft war alles akzeptabel, was man als vernünftig hinstellen konnte“, sagt der Soziologe Dirk Baecker, Schüler Luhmanns und heute gefragter Experte, wenn es darum geht, die Systemtheorie mit der digitalen Gegen- wart in Einklang zu bringen. Die aktuellen Dis- kurse zeigen jedoch, wie sehr dieser Vernunft- anspruch an seine Grenzen stößt. Lässt sich zum Beispiel die Entwicklung von autonom fahren- den Autos oder von intelligenten Robotern, die menschliche Arbeiten übernehmen, nur noch auf der Basis von Vernunft diskutieren? Und wie sieht es bei politischen Themen wie der Flücht- lingsfrage oder dem Umgang mit dem Klima- wandel aus? Baecker glaubt, dass in dieser – wie er sie nennt – „nächsten Gesellschaft“ die Vernunft als Strukturgeber von etwas anderem ersetzt wird. „Heute halten die Akzeptanz und das Wissen um Komplexität und Kontingenz die Gesellschaft zusammen“, sagt der Soziologe. Die Struktur tritt also gar nicht mehr an, um zu vereinfachen. Sie lässt lieber Möglichkeiten offen. Das ist auf den ersten Blick paradox: „Denn wie“, fragt Dirk Baecker, „kann man von einem Zusammenhalt reden, wenn Dingen und Leuten das Auseinan- derlaufen erlaubt wird?“ Kurz: Wie viel Freiheit können wir vertragen? Gegenreaktionen sind ja bereits erkennbar, die Menschen ziehen sich verstärkt in die übersichtliche Struktur der Fa- milie zurück, „Cocooning“ oder „Hygge“ heißen die Trends zur Heimeligkeit. Auch werde, so Dirk Baecker, das Arbeitsleben heute wieder stärker bürokratisiert. Und Wahlen lassen sich mit der Parole gewinnen, man müsse die Kont- rolle zurückgewinnen – an wen auch immer sie verloren gegangen sein mag. Dirk Baecker Der Soziologe Dirk Baecker (62) ist Professor an den Uni- versitäten Witten/Herdecke und Friedrichshafen. Er studier- te bei Niklas Luhmann, dem Pionier der Systemtheorie, und transferiert dessen Ansätze in die digitalen Arbeits- und Lebenswelten. WI S SEN 10 Strukturen wie Wirbelwinde „Man kann pessimistisch werden“, sagt der Sozio- loge. Doch erstens liegt ihm als Systemtheoreti- ker das Normative nicht so sehr. Und zweitens glaubt er weiterhin an die Wirkung der Struktu- ren: „Auch selbst kontrollierte Organisationen oder protektionistische Nationen können für sich neue Freiheitsspielräume definieren.“ Denn egal, wer sich als Meinungsführer oder oberster Volks- vertreter geriert: Er ist es nicht. „Die Gesamt- gesellschaft ist nicht mehr hierarchisch geord- net“, sagt der Soziologe. „Die Gesellschaft als solche besitzt keine Spitze.“ Ihre Gesamtstruktur sei vielmehr die eines Netzwerks, in dem es nur zeitlich begrenzte Über- und Unterordnungen gebe. Strukturen sind heute also nicht mehr verkrustet, sondern wirbeln die Dinge durchein- ander. „Niemand weiß, wer letztlich die Kont- rolle hat“, sagt Baecker. Immer wieder gibt es Leute, die „Bingo!“ rufen. Sie denken, sie haben gewonnen – aber kaum sind sie sich dessen bewusst, haben die Strukturen schon die Spiel- regeln verändert. Dauernd tauchen neue Versuche auf, die Welt zu ordnen. Wenn Kontrolle aber einmal gelingt, dann scheitert sie kurz danach. Entscheidungen werden getroffen – und wieder unterlaufen. Das passiert ständig. Nicht nur in der Gesellschaft, sondern auch in jedem einzelnen Leben. Wie oft haben Sie sich heute mithilfe Ihrer Neuronen im Gehirn für oder gegen etwas entschieden, Ihre Absicht doch wieder geändert oder versucht, über einen Vorgang Kontrolle zu gewinnen, den Sie gar nicht kontrollieren können? Wir alle scheitern immer wieder. Wir stolpern – aber meistens fallen wir nicht. Davor bewahren uns die Strukturen. Ob in unserem Kopf oder in der Tiefe der Gesellschaft: Strukturen wirken wie geheime Kräfte, die Komplexität so gestalten, dass wir immer besser mit ihr zurechtkommen. André Boße